Kanutin Edina Müller und Triathletin Neele Ludwig ziehen in sporting ihre ganz persönliche Bilanz der Paralympics von Paris.

Ende September, mit drei Wochen Abstand zu ihrem großen Finale, konnte Edina Müller endlich loslassen und verarbeiten. Im „Club der Besten“ in Side (Türkei), zu dem die Stiftung Deutsche Sporthilfe einmal im Jahr die erfolgreichsten Athletinnen und Athleten des Landes einlädt, hatte Hamburgs beste Para-Sportlerin Gelegenheit, auf eine Saison zurückzuschauen, die ihr alles abverlangt hat. Denn dass die 41-Jährige bei den Paralympischen Spielen in Paris am Schlusstag, dem 8. September, nach Silber in Rio de Janeiro 2016 und Gold in Tokio 2021 ihren Medaillensatz im Para-Kanu über 200 Meter in der Leistungsklasse KL1 vervollständigen und hinter Katherinne Wollermann aus Chile und der Ukrainerin Maryna Maschula Bronze gewinnen konnte, hätte fünf Wochen vor Beginn der Paris-Spiele niemand für möglich gehalten.
„Ich hätte fast meinen Start absagen müssen, weil ich mich wegen eines chronischen Erschöpfungssyndroms komplett außer Form fühlte“, sagt Edina im sporting-Gespräch. Eine Corona-Infektion im September 2023 und ein Beinbruch einen Monat später warfen sie nachhaltig aus der Bahn, „weil ich mich nicht richtig auskuriert habe und sofort wieder zur Arbeit gegangen bin“, sagt die querschnittsgelähmte Spitzenathletin, die als Sporttherapeutin im BG-Klinikum Hamburg arbeitet. Bei der WM im Mai in Szeged (Ungarn) lief alles wie geschmiert, „ich habe mich richtig fit gefühlt und Bronze geholt. Aber danach war ich so fertig, dass gar nichts mehr ging. Ich bin morgens todmüde aufgewacht und habe nur gehofft, dass der Tag schnell vorbei geht“, erinnert sie sich.
Was den Leistungseinbruch verursacht hat, ist weiterhin unklar. Natürlich, die Belastungen von 20 Jahren Hochleistungssport – 2008 und 2012 gewann Edina mit den Rollstuhlbasketballerinnen Silber und Gold bei den Paralympics – und als berufstätige Mutter eines fünfjährigen Sohnes sind nicht kleinzureden. Aber das Gefühl, vollkommen energielos zu sein, kannte sie bis dato nicht. Mithilfe ihres Hamburger Vertrauensarztes Michael Tank, der eine Mitochondrienschwäche diagnostizierte und verschiedene Therapieformen anwendete, konnte sie in kleinen Schritten ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder zurückerlangen. „So konnte ich beim Finale fast in Bestform an den Start gehen. Ohne ihn hätte ich das nicht geschafft“, sagt sie.
Selbst mit einer perfekten Vorbereitung, davon ist Edina überzeugt, hätte sie nicht besser abschneiden können. „Es herrschte im Finale starker Seitenwind, der für mich als leichte Athletin nachteilig ist. Deswegen kann ich klar sagen, dass ich Bronze gewonnen und nichts verloren habe.“ Zumal die Medaille ja „nur“ der zweite Höhepunkt der Spiele war.

Bei der Eröffnungsfeier am 28. August durfte die gebürtige Brühlerin gemeinsam mit Para-Triathlet Martin Schulz die deutsche Fahne in das provisorische Stadion auf dem Place de la Concorde tragen. „Bis auf Tokio hatte ich alle Eröffnungsfeiern mitgemacht, aber die Fahne zu tragen war ein gigantisches Erlebnis und eine riesige Ehre. Es fühlte sich an, als stünde das gesamte Team hinter mir“, sagt sie.
Dass die stundenlange Zeremonie in ihrem Zustand zusätzlich Kraft kostete, nahm Edina, die die Nächte je nach logistischer Abwägung im Athletendorf oder mit Ehemann und Sohn im privaten Apartment verbrachte, in Kauf. „Ich hatte ja genug Zeit zwischen der Eröffnung und meinem Wettkampf“, sagt sie. Zeit genug, um zu überlegen, wie es weitergehen soll mit der Karriere, hat sie nun auch. Am 11. Oktober steht noch die Ehrung aller olympischen und paralympischen Athlet*innen aus Hamburg im Rathaus an, danach will sie in Ruhe überlegen, ob sie noch einmal vier Jahre Vollgas geben möchte, um 2028 in Los Angeles aufs Wasser zu gehen. „Ich schließe es nicht aus, aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen“, sagt sie. Und die Gesundheit muss mitspielen.


Das gilt auch für Neele Ludwig. Im Gespräch mit unserer Para-Triathletin, die wir fast ein Jahr lang in unserer Serie „En route pour Paris“ begleitet haben, geht einem immer das Herz auf. Wir telefonieren auf der Rückfahrt von den Europameisterschaften in Vichy (Frankreich), wo sie am dritten September-Wochenende Silber über die Sprintdistanz holte. Einen Tag Pause durfte sie sich trotzdem nicht gönnen. „Meine Urlaubstage sind für die Trainingslager und die Paralympics draufgegangen“, sagt sie. Wir sehen wieder einen Fehler im System, Neele ist wie immer entspannt. „Ich mag meinen Job!“
Die Französin Cécile Saboureau, der sie in Vichy knapp unterlag, war auch in Paris Anfang September vor ihr gelandet, mit deutlich größerem Abstand. „In Paris war die Radstrecke mit Kopfsteinpflaster, auch nicht so toll, die Erschütterungen triggern meine Spastiken, das Gleichgewicht zu halten ist da nicht einfach“, sagt sie, aber nimmt auch das, wie es ist. Das Wasser in der Seine zu schmutzig? „Wir sind da alle gesund rausgekommen“, sagt sie trocken. „Schwierig beim Schwimmen war vielmehr die Strömung, manche schwammen phasenweise auf der Stelle.“
Als Siebte kam sie aus dem Wasser. „Beim Wechsel aufs Rad wurde ich von zwei Gegnerinnen überholt, eine davon habe ich wieder eingeholt, obwohl die Radstrecke schwierig war. Aber die Fans an der Strecke waren unglaublich, super motivierend. Als mein Trainer mir meine aktuelle Platzierung signalisierte, ich lag auf Platz 8, eine Position besser als erhofft, und ich wusste, der Platz ist nicht gefährdet und nach vorn wird das nichts mehr, habe ich das nur noch genossen, habe nur noch gelächelt, den Menschen zugewunken, das war so schön.“ Es war sowieso alles so schön, die Menschen waren so gut zueinander, das hat sie sehr berührt. „Das alles hat mich sehr hoffnungsvoll gemacht!“ Insbesondere die Stimmung im Athlet*innendorf hat die die 33-Jährige tief beeindruckt. „Abgesehen davon, dass man auch mal Eindrücke von anderen Sportarten bekam, waren alle Sportler gleich, alle freundlich, fast liebevoll und so positiv“, beschreibt sie ihre schönsten paralympischen Momente.
„Das Gleiche gilt auch für die Volunteers“, sagt sie. „Die kommen von irgendwo her angereist, zahlen Unterkunft und alles selber, arbeiten zwei Wochen für ein paar Klamotten, haben selten die Chance, Wettkämpfe zu sehen, und sind trotzdem immer freundlich.“ Ganz wunderbar, findet sie. Und das finden wir auch.
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