Philip Scheibe (43) ist Fan von Altona 93 mit Leib und Seele. Wir haben ihn bei einem Heimspiel begleitet.
Unsere erste Impression an diesem Abend: ein Schlumpf. Hängt am Zaun der sogenannten Meckerecke, einem Stehplatzbereich neben der Haupttribüne der Adolf-Jäger-Kampfbahn (AJK). „Keine Ahnung, wo der herkommt. Hängt seit diesem Jahr da“, sagt Philip Scheibe. Er mag den Schlumpf. Doch in dem ganzen Gewusel und Gewimmel eine Stunde vor Anpfiff des Viertelfinals im Hamburger Pokal gegen den SC Victoria ist jetzt etwas anderes wichtiger. „Karl Heinz Prause ist gestorben. Er war 90 Jahre alt, ein leidenschaftlicher Fan von Altona 93. Er hat früher in der zweiten Mannschaft gespielt. Wir machen ein Banner für ihn“, erklärt Scheibe. Ein befreundeter Altona-Anhänger hilft ihm. Lange Tapete, Klebeband, zwei Fans, zwei Sprühflaschen – und nach wenigen Minuten hängt das Spruchband vor dem zweiten berühmten Stehplatzbereich Altonas, genannt Zeckenhügel. „Karl Heinz – Für immer einer von uns!“, ist dort in den Vereinsfarben Altonas in Rot-Schwarz auf weißem Grund zu lesen.

Für Scheibe eine Selbstverständlichkeit. Karl-Heinz hat diese Ehre verdient. Doch jetzt wollen wir über den Anfang sprechen. Philips Anfang. Denn hier wird sofort geduzt.
„2009 habe ich einen Altona-Fan beim Pokern kennengelernt. Da ich in der Nähe der Adolf-Jäger-Kampfbahn wohnte, brachte er mir bei unserem nächsten Treffen einen Altona-93-Schal mit“, sagt Philip. Diese Szene ist sogar vertont worden. In dem Song „AFC – Die Nummer eins“. Philip hat ihn selbst gemacht, ein Freund den Beat beigesteuert.
„Es war der Maler-Claus, der mich zum AFC brachte“, heißt es darin. AFC steht für Altonaer Fußball-Club. Und Maler-Claus? „Der Fan hatte eine Ausbildung zum Maler gemacht, war aber eigentlich sein Künstlername“, so Philip.
Ausgestattet mit dem Schal vom Maler-Klaus besuchte er sein erstes Spiel. „Als ich auf dem Zeckenhügel mein erstes Bier ausgetrunken hatte, kam fünf Minuten später ein Punk zu mir und meinte ,Du siehst aber ganz schön durstig aus‘. Er drückte mir sein Bier in die Hand und da wusste ich: Hier bin ich Zuhause.“
Dabei geht es Philip weniger um den Alkohol. Sondern um die große Gemeinschaft des Hamburger Amateurfußball-Kultclubs Altona 93. Um die Werte, die hier vertreten werden. „Ich würde hier nicht stehen, wenn hier irgendwelche Idioten rumlaufen würden, die sexistische oder rassistische Scheiße von sich geben. Wir Altona-Fans stehen für ein klares Statement“, sagt er. Oder, wie es sich auf einem der Bierbecher lesen lässt: „No Homophobia. No Violence. No Sexism. No Racism. No Hate.“
1500 Fans kommen im Schnitt zu Altonas Spielen. Gerade aktuell hat der AFC enormen Zulauf. 3586 Fans sind heute gegen den SC Victoria da, zur Neuauflage des ältesten Fußball-Stadtderbys der Welt. Altona 93 wurde, na klar, 1893 gegründet, Vicky 1895. Beide spielen in der Oberliga Hamburg. Als Altonas Mannschaft zum Warmmachen rauskommt, stimmt Philip mit seinem beachtlichen Organ den ersten Sprechchor an. „91, 92“, ruft er – und im Umfeld stimmen alle ein: „93 – Altona, Altona!“

Während des Warmmachens, bei dem einige Bälle übers Tor ins Publikum fliegen und die Fans lachend aufpassen, nicht getroffen zu werden, erzählt uns Philip aus seinem Fanleben, in dem er auch Verantwortung im Verein übernommen hat. Er schaut nicht nur so gut wie jede Partie, er war auch schon Vorsitzender der Fanabteilung, später Manager der zweiten Mannschaft, die währenddessen mit Altonas Spieler-Ikonen Benjamin Lipke und Jakob Sachs als Trainerduo in die Landesliga aufstieg, sein Song wurde vom früheren Stadionsprecher Peter Helmcke oft Zum Warmmachen gespielt. „Peter erzählte mir, die Spieler hätten manchmal gewartet, bis der Song losging, bevor sie rauskamen. Das habe ich als große Ehre empfunden.“
Die heutigen Stadionsprecher spielen eher andere Songs. Philip macht das nichts aus. Er ist nicht eitel. Er ist Fan. Seinen linken Unterschenkel ziert ein Wappen von Altona 93. Auf seinem linken Oberschenkel wird bald „Altona 93 II“ zur Erinnerung an seine Zeit bei der zweiten Mannschaft stehen.
Zu Philips Fan-Dasein gehört prägend neben fantastischen Erlebnissen wie großen Siegen und Aufstiegen in die Regionalliga Nord und bitteren Niederlagen wie dem 2016 tragisch verlorenen Hamburger Pokalfinale gegen Eintracht Norderstedt (1:4 nach Verlängerung) die Fanfreundschaft mit dem englischen Amateurverein Dulwich Hamlet. Beide Fanlager treffen sich immer wieder. Beide Clubs, die 1925 das erste Mal aufeinandertrafen, spielen dann gegeneinander. Am 12. Juli wird das 100-jährige Jubiläum des ersten Aufeinandertreffens gefeiert. Philip trat sogar schon bei einem Fantreffen auf der Bühne im Hafenklang als Sänger mit seinem Song auf. „Die Reisen nach London waren ebenso überragend wie die Dulwich-Fans als Gäste in Hamburg bei uns zu haben“, sagt Philip.
Dann geht das Spiel los. Schnell wird klar, warum Philip nicht in der Fankurve des FC St. Pauli steht. Obwohl er den alten St.-Pauli-Spruch bemüht, bei Altona könne „der Punker ein Bier mit dem Banker trinken und beide sind glücklich“.
Doch mit St. Paulis Ultra-Fankultur, in der ein Capo am Zaun den Takt vorgibt und alle mitsingen, kann Philip einfach nichts anfangen. „Ein Spruch bei uns Altona-Fans heißt ,Bier ist unser Capo‘“, sagt er. Übersetzung der Ironie: Jeder soll dann anfeuern, wann es ihm passt. 90 Minuten ununterbrochen gesungen wird aber nicht.
Das Spiel selbst ist weitgehend unspektakulär. Wenige Torchancen, alles sieht nach Elfmeterschießen aus. Bis sich Gianluca Przondziono in der 90. Minute ein Herz fasst und den Ball zum Sieg für Altona ins Netz hämmert. Direkt vor dem Zeckenhügel. Riesiger Jubel überall. „Jaaaaaaa“, schreit Philip mit, dessen Stimme vom Anfeuern schon etwas gelitten hat. „Da ist es!“
Kurz darauf ist Schluss. 1:0 gewonnen, Halbfinale. Philips großer Traum kommt näher. Der erste Hamburger Pokalsieg seit 1994. „Dann würden wir im DFB-Pokal spielen. Einmal will ich das noch erleben. Ich will Altona 93 einmal im Fernsehen gegen einen Proficlub spielen sehen“, sagt er zum Abschied.
Und wenn es nicht klappt? Dann klappt es nicht. Philip wird da sein, wenn Altona 93 spielt. Der AFC ist seine Nummer eins.
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